Interview mit I/O- und Smart-Grid-Experte Dr. Fabian Assion
Der Anteil erneuerbarer Energien – durch Solar, Wasser und Wind – hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen und machte 2023 schon mehr als die Hälfte der Stromeinspeisung in Deutschland aus. Was dieser hohe Anteil an stark fluktuierender Energie in steuerungstechnischer Hinsicht für den Netzbetrieb und die erforderlichen Smart Grids bedeutet, erläutert Dr. Fabian Assion, Produktmanager I/O bei Beckhoff.
Welche Rolle spielen Smart Grids im Rahmen der Energiewende und was bedeutet dies für das Netzmanagement?
Dr. Fabian Assion: Durch den erhöhten Anteil an erneuerbaren Energien werden die Versorgungsnetze instabiler, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wird diese Energie deutlich verteilter erzeugt und nicht mehr so zentral wie bisher im Fall der großen Kraftwerke. Dementsprechend passt die bisherige physikalische Netzstruktur nicht mehr so gut wie früher, d. h. der veränderte Stromfluss führt teilweise zu Instabilitäten und Überlastungen im Netz. Zweitens werden traditionelle Kraftwerke in der Regel per Synchrongenerator betrieben, was sich für den Netzbetrieb, z. B. durch die optimale Netzstützung bei einem Erdschluss, ideal eignet. Die erneuerbaren Energien sind hingegen wechselrichtergesteuert und können daher die in einem solchen Fall notwendigen sehr hohen Ströme nur in einem geringen Maß bereitstellen. Dies führt ebenfalls zu Netzinstabilitäten. Die heutigen Energieversorgungsnetze sind daher insgesamt komplizierter zu regeln. Und genau dafür werden Smart Grids eingesetzt, die über deutlich mehr Informationen zum aktuellen Netzzustand verfügen und sich somit auch viel besser regeln lassen.
Welche technischen Anforderungen ergeben sich durch die Smart Grids z. B. hinsichtlich einer erweiterten Messtechnik?
Dr. Fabian Assion: Entscheidend ist, dass in allen Netzebenen Messtechnik installiert werden muss. Bislang ist dies in erster Linie in den Bereichen der Höchst- und Hochspannung umgesetzt, bei Mittel- und Niederspannung jedoch kaum oder meist sogar überhaupt nicht. Dass gerade in den unteren Netzebenen nachgerüstet werden muss, ist aus Investitionssicht von großer Bedeutung. Denn diese Ebenen sind exorbitant viel größer als die oberen Bereiche und erfordern dementsprechend auch ein Vielfaches an Messpunkten. Selbst um nur einigermaßen flächendeckend vorzugehen, sind hunderttausende Messstellen nötig. Das verdeutlicht das Beispiel der Ortsnetzstation als unterstes Glied im Versorgungsnetz. Hier wird die Mittel- in Niederspannung transformiert, wozu meist ein Transformator mit in der Regel acht oder mehr Niederspannungsabgängen dient. Diese Abgänge sollten alle mit Messtechnik für unterschiedlichste Messgrößen ausgestattet werden, und das bei einigen 100.000 Ortsnetzstationen in Deutschland.
Und welche Messgrößen sind dabei relevant?
Dr. Fabian Assion: Strom ist natürlich schon einmal der wichtigste Einzelwert, aber allein reicht dieser nicht weit. Es sollten möglichst an jedem Abgang zudem alle Leistungen – also Blind-, Schein- und Wirkleistung – erfasst werden, um Aussagen über den Netzzustand treffen zu können. Dies ist besonders wichtig, da inzwischen ein Großteil der Verbraucher netzteilbetrieben ist und daher unerwünschte Oberwellen erzeugt. Die für die Netzqualität verantwortlichen Netzbetreiber werden somit auf detaillierte Daten zur Oberwelligkeit und sogar zur Höhe jeder einzelnen Oberwelle von jedem Abgang kaum mehr verzichten können, um bei Bedarf zielgenaue Maßnahmen zu ergreifen.
Welche Vorteile bietet hier die PC- und EtherCAT-basierte Steuerungstechnik von Beckhoff mit ihrer systemintegrierten Messtechnik?
Dr. Fabian Assion: Mit PC-based Control von Beckhoff lässt sich die messtechnische Aufgabe mit vergleichsweise geringem technischen und somit auch finanziellen Aufwand lösen. Und das mit einer hochqualitativen und dennoch einfach handhabbaren Messtechnik, die zudem auf EtherCAT mit seinen Distributed Clocks basiert und dementsprechend ausreichend schnell und präzise ist, um auch auf kurzfristige Ereignisse im Netz passend reagieren zu können. Hervorzuheben ist dabei unser Konzept der verteilten Leistungsmessung, mit der sich hochwertige Messdaten besonders kostengünstig generieren lassen.
Was genau steckt hinter dem Konzept der verteilten Leistungsmessung?
Dr. Fabian Assion: Kern des Konzepts ist, dass sich mit der EtherCAT-Klemme EL3446 als reiner Strommessklemme alle relevanten elektrischen Daten des Versorgungsnetzes inkl. echter Leistungsmesswerte ermitteln lassen – also ohne lokale Spannungsmessung. Die für die Berechnung der Leistungsdaten erforderlichen Spannungswerte erhalten die im System ganz nach Bedarf verteilten EL3446 über EtherCAT von einer separat nur einmal zu installierenden Leistungsmessklemme EL3443 übermittelt – über die Distributed Clocks von EtherCAT zeitlich exakt synchronisiert. Auf diese Weise minimieren sich der Hardware- und Installationsaufwand, um mit einer hochwertigen Oberwellenmessung an jedem Abgang und dem daraus ermittelten Power Quality Factor die Netzqualität zuverlässig überwachen zu können.
Lösungen mit PC-based Control haben sich u. a. im Bereich Windenergie bereits vielfach bewährt. Welche Vorteile stehen hier im Vordergrund?
Dr. Fabian Assion: Richtig, weltweit wurden bereits mehr als 100.000 Windenergieanlagen (WEA) bis zu einer Größe von 16 MW mit unserer PC-basierten Steuerungstechnik automatisiert. Dabei spielt wiederum EtherCAT seine Vorteile aus, indem es sehr schnelle und exakt synchronisierbare Steuerungsvorgänge und auf diese Weise einen optimierten Betrieb und Energieertrag ermöglicht. Dies gilt für die einzelne WEA, sogar in noch größerem Umfang aber auch für die Vernetzung innerhalb eines kompletten Windparks. Bei Offshore-Anlagen kommt außerdem die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) als eines der komplexesten Elemente in einem Versorgungsnetz dazu. Auch hier kommt PC-based Control von Beckhoff erfolgreich zum Einsatz, wie es die in Ausgabe 02/2024 unseres Kundenmagazins PC Control beschriebene Lösung von Siemens Energy verdeutlicht.
Die Beckhoff Technik spielt nicht nur im Bereich der Energieerzeugung ihre Vorteile aus, sondern auch bei der Energieverteilung über die regionalen Versorgungsnetze. Welche Effizienzpotenziale lassen sich dabei erschließen?
Dr. Fabian Assion: Hier profitieren die Anwender neben der systemintegrierten Messetechnik in hohem Maß vom insgesamt äußerst breiten Beckhoff I/O-Spektrum für alle Einsatzbereiche und Umgebungsbedingungen. So lassen sich ganz nach Bedarf alle erforderlichen Informationen erfassen und in der Steuerung zusammenführen – zur Leistungsmessung, aber auch zur Einbindung von z. B. Fernwirkprotokollen, Schalterstellungen, Signalmeldungen sowie Transformator- und Umgebungstemperatur. Wie stark dies zu einem sicheren Netzmanagement beitragen kann, zeigt das Beispiel von Romande Energie, Energieversorger in der Westschweiz (s. PC Control, Ausgabe 04/2020).
Die Erfassung der Leistungsdaten ist die eine Seite, deren Stabilisierung die andere. Welche Lösungen bietet PC-based Control im Bereich der Frequenzregelung bzw. -stabilisierung?
Dr. Fabian Assion: Die Frequenzregelung und Stabilisierung im Energieversorgungsnetz ist eine sehr aufwendige und komplizierte Aufgabe. Es sind dafür nicht nur umfassende Netzdaten erforderlich, sondern auch eine äußerst schnelle Systemreaktion – im Milli- und manchmal sogar Mikrosekundenbereich. Das koreanische Unternehmen Power 21 hat dies schon im Jahr 2015 für den Energieversorger KEPCO mit einer hochgenauen Frequenzmessung über unsere Netzmonitoringklemme EL3773 mit Oversampling-Funktion erfolgreich realisiert (s. PC Control, Ausgabe 01/20216). Ein weiteres Beispiel: Das Institut für Elektroenergiesysteme und Hochspannungstechnik (IEH) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erforscht Möglichkeiten, um die Systemstabilität in den sich durch die Energiewende wandelnden Übertragungsnetzen sicherzustellen. Neben simulativen Untersuchungen wird in einer eigenen Versuchsumgebung das Verhalten von Kraftwerken und umrichterbasierten Erzeugungsanlagen in einem Inselnetz nachgebildet. Hierzu werden neuartige Regelungsverfahren auf Beckhoff Embedded-PCs mit TwinCAT ausgeführt und somit realitätsnah validiert (s. PC Control, Ausgabe 03/2021).
Welche Einsparpotenziale hinsichtlich der Leistungsaufnahme können die regionalen Verbraucher, vor allem größere Industrieanlagen mit eigenen Versorgungsnetzen, erschließen?
Dr. Fabian Assion: Mit einem eigenen Energiemanagementsystem lassen sich die Verbräuche verfolgen und über das Vermeiden von Lastspitzen auch Kosten minimieren. Einen besonders großen Effekt hat dies, wenn ein eigenes Energieversorgungsnetz aufgebaut wird. Und das gilt nicht nur für große Industriekonzerne, sondern durchaus auch für den Mittelstand. Sobald eine eigene Erzeugungsanlage z. B. in Form von Photovoltaik installiert wurde, sollte man zumindest über ein Energiemanagement nachdenken. Existieren zusätzlich auch noch Speicher und steuerbare Lasten, beispielsweise zusammen als ein bidirektionaler Ladepunkt, lassen sich Energieflüsse gezielt lenken.
Wie wichtig ist dabei eine durchgängige Steuerungstechnik wie PC-based Control, mit der sich sowohl der Gebäude- als auch der Produktionsbetrieb steuern und energetisch optimal aufeinander abstimmen lassen?
Dr. Fabian Assion: Mit einer durchgängigen Beckhoff Lösung lassen sich natürlich sehr gut ebenso durchgängige Energiedaten ermitteln. Diese bilden zusammen mit dem passenden Energiemanagement die Basis, um zum einen mögliche Prozessoptimierungen auch aus energetischer Sicht zu betrachten und um zum anderen auf einen immer häufiger vorkommenden dynamischen Strompreis reagieren zu können. Beides bietet einiges Potenzial zur Reduzierung der Energiekosten. Sehr gute Beispiele dafür sind die Prozess- und Gebäudeautomation aus einem Guss bei Engelhard Arzneimittel sowie die über PC-based Control verbundene Gebäude- und Fertigungsautomation beim österreichischen Unternehmen Pollmann (beides s. PC Control, Ausgabe 03/2022).
Der wachsende Anteil erneuerbarer Energien erfordert auch den Ausbau an dezentralen Speicherkapazitäten. Welche Steuerungsmöglichkeiten bietet PC-based Control bei batterieelektrischen Speichern, Biogaskraftwerken oder Wasserstoffspeichern?
Dr. Fabian Assion: Hier sind die Anwendungsbereiche unserer Steuerungs- und Messtechnik so vielfältig wie die Speichersysteme. Ein Beispiel im batterieelektrischen Bereich mit immens viel Zukunftspotenzial ist die Nutzung von Elektrofahrzeugen in Parkhäusern als Energiespeicher. Hierfür bietet Beckhoff mit TwinCAT 3 IoT OCPP (Open Charge Point Protocol) und der EtherCAT-Klemme EL6761 eine Komplettlösung zur ISO-15118-Kommunikation zwischen Ladestation und Elektrofahrzeug, vorhandenen Ladepunkten untereinander und/oder den zugehörigen zentralen Managementsystemen. Wie sich mit PC-based Control eine flexible Prozesssteuerung und ein lückenloses Datenmonitoring für weitere Speichertechnologien realisieren lassen, zeigen u. a. die Biogaskraftwerke von Reverion in kompakter Container-Bauweise (s. PC Control, Ausgabe, 01/2024) und die Niederdruck-Wasserstoffspeicher auf Metallhydrid-Basis von GKN Hydrogen (s. Titelstory dieser PC-Control-Ausgabe).
Gibt es abschließend noch etwas zu ergänzen?
Dr. Fabian Assion: Wir alle stehen vor vielfältigen großen Herausforderungen und eine davon ist der Umbau unserer Energieversorgung. Hierzu trägt Beckhoff seinen Anteil bei, auch um das Motto unseres Inhabers und Firmengründers „Ingenieure müssen die Welt retten!“ umzusetzen. Weil das aber keinesfalls allein zu schaffen ist, möchte ich all unseren Kunden – Bestandskunden, wie auch zukünftigen – anbieten, hieran mitzuwirken und gemeinsam diese Aufgabe anzugehen.