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24.02.2021

IT als Enabler für sehende, sprechende und denkende Maschinen

Interview mit Hans Beckhoff, Geschäftsführender Inhaber von Beckhoff Automation, und Armin Pehlivan, Geschäftsführer von Beckhoff Österreich

Quelle: x-technik IT & Medien GmbH, Fachmagazin x-technik-AUTOMATION, www.automation.at

Autor: Fachmagazin x-technik-AUTOMATION, www.automation.at

Die Welt ist groß und bunt. Man müsse als Unternehmer „lediglich“ die gebotenen Chancen wahrnehmen, zukunftsweisende Technologien sowie Trends erkennen und in Lösungen umsetzen. Hans Beckhoff selbst hält seit nunmehr 40 Jahren an diesem Leitsatz fest. Sein Erfindergeist scheint unbegrenzt. Aktuell dient ihm u. a. „die Steuerungstechnik“ des Menschen als Inspirationsquelle für neue Ideen, wie aus dem nachfolgenden Interview zu erfahren ist. Gemeinsam mit Armin Pehlivan gibt er einen spannenden Einblick in eine neue Methode der Maschinenprogrammierung.

Herr Beckhoff, Sie orientierten sich schon sehr früh an der IT-Branche, warum?

Hans Beckhoff: Die IT steckte schon immer als treibende Kraft hinter der Halbleiterindustrie. Im Vergleich dazu war der Markt der Industrieelektronik relativ klein. Deshalb beschlossen wir im Jahre 1985, die IT-Technik für unsere Zwecke zu nutzen. Und diese Kombination aus IT und Automatisierungstechnik hat sich von Anfang an als sehr fruchtbringend herausgestellt. Denn mit der Konzentration auf PC Control hatten wir immer die leistungsfähigsten Prozessoren und das am weitesten ausgebaute Betriebssystem zur Verfügung und konnten darauf aufbauend eine maximal leistungsfähige Steuerungstechnik realisieren.

Edge Computing war/ist für Beckhoff Automation also im Grunde genommen nichts Neues?

Hans Beckhoff: Richtig, weil die gewünschten Eigenschaften eines Edge Computers bei unserer PC-basierten Steuerungstechnik „von Natur aus“ mit an Bord sind. Wir profitieren aber dennoch von einer vermehrten Nachfrage nach sogenannten Edge Controllern. Denn unsere kleinen Compact PCs, wie der C6015, werden oftmals als perfekte Ergänzung zu einer klassischen Steuerung gesehen, um Edge Computing zu ermöglichen.

Armin Pehlivan: Neben unseren kleinen Hutschienen-PCs bietet sich aber z. B. auch der IoT-Buskoppler EK9160 als Edge-Gerät an. Das ist ein kleiner, in sich geschlossener Controller, der jede Art von Daten – sei es digital oder analog – teilweise sogar vorverrechnet in die Cloud transferieren kann. Einfach installier- und konfigurierbar ist der EK9160 obendrein. Das bedeutet: Dieser Controller ist selbst für weniger technikaffine Menschen eine perfekte Edge Computing ermöglichende Option.

Mit TwinCAT Cloud Engineering lassen sich im Rahmen von Industrie 4.0 auch global verteilte Steuerungssysteme einfach aus der Ferne bedienen und warten.
Mit TwinCAT Cloud Engineering lassen sich im Rahmen von Industrie 4.0 auch global verteilte Steuerungssysteme einfach aus der Ferne bedienen und warten.

Inwieweit dient Beckhoff Automation der Mensch als Vorbild für Weiterentwicklung – Stichworte Hören/Sprechen (Speech), Sehen (Vision), Machine Learning (Intelligenz)?

Hans Beckhoff: Wir konnten schon immer viel von der Natur lernen. Bei der „Steuerungstechnik eines Menschen“ beispielsweise hat die Evolution beschlossen, dass diese bis auf wenige Ausnahmen über ein zentrales Nervensystem geregelt wird. Unser Gehirn spielt dabei die Rolle eines modular aufgebauten Zentralcomputers, der über unser Nervensystem auf ein geschlossenes Prozessabbild des gesamten Körpers zugreift. Eine Steuerung von Beckhoff ist ähnlich aufgebaut: Wir verwenden EtherCAT als Kommunikationsmedium, das alle gesammelten Signale zur Steuerung weiterleitet. Und genauso wie unser Gehirn mehrere Sinneseindrücke gleichzeitig verarbeiten kann – z. B. optische, akustische oder taktile – kann dies auch unsere Steuerungssoftware TwinCAT unter Zuhilfenahme entsprechender Algorithmen.

Armin Pehlivan: Was die Leistungsfähigkeit unserer Steuerungen betrifft, profitieren wir erneut von Errungenschaften der IT-Branche. Eine PC-basierte Steuerungstechnik lässt sich sowohl hard- als auch softwareseitig fein skalieren. Dank Multicore- bzw. nunmehr Manycore-Technologie können wir die Rechenkapazitäten, die z. B. für eine klassische Ablaufsteuerung, Messtechnik, Bildverarbeitung, Künstliche Intelligenz oder Motion benötigt werden, theoretisch auf bis zu 256 Kerne aufteilen, in der Praxis liefern wir immerhin 48-Kern-Steuerungen aus.

Wo sehen Sie künftige Anwendungsgebiete von TwinCAT Speech?

Hans Beckhoff: Für uns Menschen ist es „normal“, dass wir miteinander reden, um uns auszutauschen. So betrachtet ist eine Spracheingabe und -ausgabe ein sehr natürliches Mensch-Maschinen-Interface, von dem in Zukunft einiges zu erwarten ist. Derzeit läuft in Österreich ein Pilotprojekt, bei dem per Spracheingabe programmiert wird, aber dazu kann Armin Pehlivan aus erster Hand berichten ...

Armin Pehlivan: Die meisten Speech-Anwendungen, die bisher realisiert wurden, beschränken sich auf einzelne Befehle: Man sagt einer Maschine oder Anlage, was sie zu tun hat und diese macht. Oder es macht umgekehrt die Maschine per Sprachausgabe darauf aufmerksam, dass sie irgendwo eine Störung hat. Beckhoff Automation verfolgt aber ein weitaus ambitionierteres Ziel: Wir wollen mit Maschinen in einen richtigen Dialog treten, bei dem beide Seiten Fragen stellen und auch beantworten.

Können Sie ein paar Details zum aktuell laufenden Speech-Projekt verraten?

Armin Pehlivan: Leider darf ich keine Details verraten, aber ich versuche anhand eines Beispiels darzulegen, woran wir aktuell arbeiten: Angenommen ich würde einer anderen Person den Befehl erteilen „Bitte kaufe einen Liter Milch“, dann hätte ich dadurch vollautomatisch eine größere Aktionskette ausgelöst. Denn um Milch zu kaufen, muss die betreffende Person außer Haus gehen. Sie muss wissen, welche Geschäfte Milch im Sortiment führen und wo es so ein Geschäft gibt. Auf dem Weg dorthin sind die Verkehrsregeln zu beachten. Im Geschäft muss sie mit anderen Menschen interagieren und sich bei der Kasse anstellen. Mit der Ausführung dieses einen Befehls „Milch kaufen“ ist also schon sehr viel passiert im Hintergrund. Und solche komplexen Programmierungen versuchen wir nun mit TwinCAT Speech zu lösen. In Zukunft soll der Endkunde seine Maschine per Sprachbefehl umprogrammieren können.

Hans Beckhoff: Man kann also davon ausgehen, dass in Zukunft ein Headset benutzt wird, um mit Maschinen in Kontakt zu treten.

Welche Zukunftsszenarien würden Sie sonst noch malen?

Hans Beckhoff: Machine Vision ist ein weiteres Thema, das sicherlich noch viel mehr Einzug halten wird als dies bis dato der Fall ist. Und auch hier lässt sich wieder die Parallele zum Menschen ziehen. Die Augen dienen uns als Universalsensoren, mit denen wir u. a. Personen und Gegenstände identifizieren, Distanzen abschätzen oder (Kollisions-)Gefahren erkennen können. All diese Dinge sind mit Kameras ebenfalls möglich. Deshalb gehen wir davon aus, dass es irgendwann Usus sein wird, dass pro Maschine 10 bis 30 Kameras zum Einsatz kommen, während die klassische Sensorik sukzessive zurückgedrängt wird. Mit TwinCAT Vision sind wir auf jeden Fall bestens vorbereitet auf so ein Szenario, da wir die Bildverarbeitung nicht als separates Gewerk, sondern als integralen Bestandteil unserer Steuerungstechnik betrachten. Wir können demnach mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der wir die SPS betreiben, Bildverarbeitungsauswertungen vornehmen.

XPlanar, eine Art „fliegender Teppich“ für den Produkttransport: Die Planarkacheln lassen sich nicht nur zu einer Rechteckfläche, sondern auch zu einer anwendungsspezifisch ausgelegten Struktur anreihen.
XPlanar, eine Art „fliegender Teppich“ für den Produkttransport: Die Planarkacheln lassen sich nicht nur zu einer Rechteckfläche, sondern auch zu einer anwendungsspezifisch ausgelegten Struktur anreihen.

Was wird die nächste große Revolution sein, die Beckhoff Automation präsentieren wird?

Hans Beckhoff: Wir haben uns bei der Firmengründung vorgenommen, jedes Jahr evolutionäre Weiterentwicklungen zu präsentieren und alle fünf bis sieben Jahre mit einer echten Revolution auf den Markt zu drängen. An diesen Fahrplan haben wir uns bis heute gehalten: Zu den bisherigen Highlights zählten u. a. eine PC-basierte Maschinensteuerung mit integriertem Diskettenlaufwerk (1985), der allererste Compact IPC mit LCD-Display, die Busklemme – heute ein absolutes Standardbauteil der Automatisierungstechnik, das wir erfunden haben, aber leider nicht patentieren ließen. TwinCAT kam 1996, EtherCAT, das sich zu einem Weltstandard für die industrielle Kommunikation entwickelt hat, folgte 2003. Die Präsentation von TwinSAFE, unserer softwarebasierten Safety-Lösung, bildete einen weiteren technologischen Meilenstein in unserer Firmengeschichte. Die letzten „Revolutionen“, mit denen wir aufhorchen ließen, waren das lineare Transportsystem XTS sowie das Flying Motion System XPlanar – eine Art „fliegender Teppich“ für den Produkttransport. Da wir mittlerweile beliebig geformte Magnetfelder erzeugen können, wird im Bereich der Antriebstechnik noch viel Neues passieren in den nächsten Jahren. So viel kann ich jetzt schon prophezeien.

Armin Pehlivan: Viel Potenzial für innovative Lösungsansätze orten wir auch rund um das Thema Cloud. Da gibt es eine Reihe von Konzepten, die in der Planung bzw. Umsetzung sind. Den Anfang machten wir mit TwinCAT Cloud Engineering, das ein Arbeiten mit TwinCAT über einen Internetbrowser erlaubt. Die Software muss also nicht mehr am eigenen Rechner installiert werden, um einen Zugriff auf die existierenden TwinCAT-Engineering-und Runtime-Produkte zu erhalten. Für viele Firmen ist dies ein interessantes Angebot, weil sie damit unabhängig von der eigenen zentralen IT eine webbasierte Automatisierungslösung aufrufen können, die sich auch für ein kollaboratives Arbeiten anbietet.

Wohin wird die Reise im Bereich Machine Learning gehen?

Hans Beckhoff: Die Grundidee beim maschinellen Lernen ist es, Lösungen für bestimmte Aufgaben nicht mehr durch klassisches Engineering zu erarbeiten und in einen Algorithmus zu überführen. Vielmehr soll der gewünschte Algorithmus anhand von Prozessdaten erlernt werden. Mit TwinCAT 3 Function TF3800 bieten wir ein hochperformantes Ausführungsmodul für trainierte klassische maschinelle Lernalgorithmen und mit TwinCAT 3 Function TF3810 eines für trainierte neuronale Netze. Beides sind sogenannte Inferenzmaschinen, die von unseren Kunden als Produkt benutzt werden. Aus SPS-Sicht sind dies Funktionsbausteine, in denen Algorithmen für Künstliche Intelligenz implementiert sind. Das Training der Algorithmen bzw. der neuronalen Netze erfolgt in etablierten Frameworks wie PyTorch, Tensorflow oder MATLAB®. Die gelernten Informationen werden als Beschreibungsdatei in die Inferenzmaschine geladen. Dabei wird das standardisierte Austauschformat Open Neural Network Exchange (ONNX) unterstützt, sodass die Welt der Automatisierung und der Data Science nahtlos ineinandergreifen. Man kann also mithilfe von in der Community verfügbaren Trainingsprogrammen Algorithmen trainieren und in unserer Steuerung zum Ablauf bringen.

Armin Pehlivan: Das ist ein permanenter Kreislauf. Wir sammeln Daten an der Maschine, stecken diese in die Trainingssoftware und das Ergebnis der Trainingssoftware wird dann in der Inferenzmaschine zur Ausführung gebracht. Auf diese Art und Weise können beispielsweise bei einer Sägemaschine drei Werte, die an sich algorithmisch schwer zu verknüpfen sind, so trainiert werden, dass man dennoch eine zuverlässige Zustandsinformation über die Schärfe des Sägeblatts erhält.

Hans Beckhoff: Das Zusammenfassen mehrerer Sensordaten zu einem gemeinsamen, übergeordneten Signal ist generell ein Bereich, der sehr gut funktioniert mit maschinellem Lernen und neuronalen Netzen. Wir setzen diese Technologie auch bei unseren eigenen Produkten ein. Hinter XPlanar beispielsweise stecken jede Menge neuronaler Netzwerke. Grundsätzlich ist Machine Learning eine Querschnittstechnologie, die nicht nur in der Technologie, sondern überall in der Gesellschaft ihre Anwendung finden wird.

Wo sind die Grenzen, wird sich einmal alles selbst regeln?

Hans Beckhoff: Wenn man die Errungenschaften der ersten industriellen Revolution als „Muskelkraftverstärker“ betrachtet, könnte man Künstliche Intelligenzen als „Denkverstärker“ sehen. Aber obwohl es mittlerweile selbstverständlich für uns ist, dass wir uns verschiedene Arbeiten von Maschinen abnehmen lassen, haben viele Menschen eine enorme Scheu davor, das Denken bzw. Entscheiden aus der Hand zu geben. Dabei müssen wir uns keineswegs davor fürchten, dass wir Menschen „nutzlos“ werden. Denn selbst die Automatisierungstechnik ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit. Um komplexe Aufgabenstellungen meistern zu können, braucht es eine gute Gesprächsbasis zwischen den Anbietern und Anwendern von Produkten und Lösungen. Zu meiner Freude hat es die österreichische Beckhoff-Mannschaft sehr gut verstanden, das Vertrauen vieler Kunden zu gewinnen. Sie ist auch sehr oft in besonders spannende Projekte involviert, da die Österreicher teilweise offener für „verrückte, neue Ideen“ sind als deutsche Kunden. Die von Armin Pehlivan geschilderte Methode, per Spracheingabe zu programmieren, ist das beste Beispiel dafür.