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20.08.2024

Hohe Leistung effizient über weite Strecken übertragen

Model-Based Engineering und PC-based Control bei der Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung

Sei es von Offshore-Windenergieanlagen auf hoher See zum Festland, von den Windenergieanlagen in Norddeutschland zu den Industriestandorten im Süden der Bundesrepublik oder von Wasserkraftwerken in Skandinavien nach Zentral-Europa: Zum Übertragen großer Energiemengen über weite Distanzen wird die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung eingesetzt. Bei seiner entsprechenden Lösung setzt Siemens Energy auf MATLAB® und Simulink® von MathWorks und auf PC-based Control von Beckhoff.

Nach dem Disput zwischen Nikola Tesla und George Westinghouse um die Technik für die elektrische Versorgung der USA in den 1890er Jahren, hat sich der Wechselstrom weitestgehend durchgesetzt. Allerdings wirken die Kabel zur Übertragung von Wechselstrom über lange Strecken wie eine Kapazität, was zu Übertragungsverlusten und einem Bedarf an Kompensation durch Blindleistung führt. Bei der Übertragung von Gleichstrom ist dieser Blindleistungsbedarf hingegen vernachlässigbar, das heißt der Strom kann deutlich verlustärmer transportiert werden. Daher setzt man zur Übertragung hoher Leistung auf Gleichstrom unter hoher Spannung.

Anlage zur Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung
Anlage zur Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung

Grundlagen der Gleichstrom-Übertragung

Für eine solche Übertragung mittels Gleichstroms werden – stark vereinfacht – zwei Leistungsumrichter mit einem gemeinsamen Zwischenkreis (DC-Leitung) genutzt. Jeder Leistungsumrichter kann aus dem Netz mit Wechselstrom die Energie in den Zwischenkreis mit Gleichstrom übertragen sowie gleichermaßen die Energie aus dem Zwischenkreis wieder als Wechselstrom ins Netz einspeisen. So lässt sich in beliebiger Richtung die elektrische Energie zwischen den beiden Netzanschlüssen übertragen. Im Zwischenkreis wird Gleichstrom mit sehr hoher Spannung zur Übertragung genutzt, woher das System seinen Namen Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ bzw. HVDC, High-Voltage Direct-Current) erhalten hat. Zur Stromwandlung werden Transistoren – sogenannte „Bipolartransistoren mit isolierter Gate-Elektrode“ (Insulated-Gate Bipolar Transistor, IGBT) – eingesetzt, welche wie Ventile wirken. Diese können den Strom passieren lassen oder ihn sperren und so mittels Pulsmuster die gewünschten Stromverläufe erzeugen.

Der Leistungsumrichter eines HVDC-Systems hat jedoch eine andere Dimensionierung als geläufige Umrichter. Denn es werden modulare Multilevel-Umrichter (Modular Multi-Level-Converter, MMC) bestehend aus hunderten IGBTs eingesetzt und auf einer Fläche von 10 bis 15 Hektar aufgebaut. Der Zwischenkreis nutzt eine Spannung zwischen 100 bis 800 kV und überträgt Leistungen zwischen 500 bis 6.400 MW über Distanzen von hunderten Kilometern.

Neues Steuerungskonzept für große Leistungsumrichter

Als Hersteller für Systeme zur Energieübertragung und Stabilisierung des Stromnetzes setzt Siemens Energy zukünftig auf die PC-basierte Steuerungstechnik von Beckhoff. Dabei werden Embedded-PCs und EtherCAT-I/O-Klemmen sowie die Automatisierungssoftware TwinCAT in Verbindung mit Model-Based Design zur übergeordneten Steuerung und für den Schutz von großen Leistungsumrichtern eingesetzt. Diese Leistungsumrichter bilden u. a. die Grundlage solcher HVDC-Systeme, werden aber auch für Anlagen zur Kompensation von Blindleistung oder zur Stützung und Stabilisierung von elektrischen Energienetzen verwendet (Flexible AC Transmission Systems, FACTS).

Um ein hohes Maß an Zuverlässigkeit für einen derart wichtigen Teil des Energienetzes zu erreichen, werden vielfach redundante Systeme eingesetzt. So befinden sich die Steuerungs- und Schutzsysteme in Hard- und Software dauerhaft in einem Hot-Standby-Modus, um bei jeglicher Fehlfunktion unmittelbar auf das redundante System umschalten zu können. Dafür wird über mehrere voneinander getrennte Ethernet-Netzwerke mittels des TwinCAT Parallel Redundancy Protocol (PRP) nach IEC 62439-3 eine redundante Kommunikation etabliert. Hierüber wird sowohl per EtherCAT Automation Protocol (EAP) zwischen den Embedded-PCs als auch über MMS und GOOSE nach IEC 61850 zu externen Systemen wie Leistungsschutzschaltern kommuniziert.

Testschrank mit dem Embedded-PC CX2043 und direkt angereihten EtherCAT-Klemmen
Testschrank mit dem Embedded-PC CX2043 und direkt angereihten EtherCAT-Klemmen

Schnelle Reaktionszeiten und sicherer Betrieb

Die Anforderungen nach schnellen Reaktionszeiten für die übergeordnete Strom- und Spannungsregelung werden durch EtherCAT und performante Embedded-PCs realisiert. Durch die AMD-Ryzen™-CPU in den Embedded-PCs CX2043 ist die Ausführung der Regelung in TwinCAT mit Zykluszeiten von 250 µs und bei minimalem Jitter erreichbar. Dabei werden pro Leistungsumrichter insgesamt bis zu zwölf solcher Embedded-PCs eingesetzt, die in redundanten Segmenten schnelle Signale über die EtherCAT-Bridge-Klemme EL6695 austauschen.

Für einen sicheren Betrieb der Anlagen als Teil der kritischen Infrastruktur wurde das Betriebssystem TwinCAT/BSD ausgewählt. Es bietet eine stabile Unix-Plattform für die TwinCAT 3 Runtime, die auch den aktuell steigenden Security-Anforderungen gerecht wird. In der Echtzeitumgebung von TwinCAT 3 werden dann TwinCAT-Module ausgeführt. Dabei kommen direkt in C/C++ entwickelte TwinCAT-Module für Grundfunktionen oder spezielle Kommunikations-Stacks zum Einsatz. So wird eine Abstraktion der Regelungssoftware von den Details der Hardware oder Kommunikation über verschiedene Protokolle wie EtherCAT oder IEC 61850 ermöglicht. Spezifische Funktionen und Regelungen der Anlage werden dann mit modellbasierter Entwicklung in MATLAB® und Simulink® projektiert und mittels Codegenerierung auf die Embedded-PCs übertragen.

Durchgängige und offene Software nutzen

Da solche HVDC-Anlagen für die Entwicklung und Verifikation nicht als physikalisches System zur Verfügung stehen, kommt dem frühen Testen über Simulationen eine zentrale Bedeutung zu. Diese Tests wurden in der Vergangenheit in verschiedenen Simulationsumgebungen durchgeführt, wofür die Steuerungs- und Schutzsoftware manuell in jede Umgebung übersetzt werden musste. Dieser manuelle Prozess war zu fehleranfällig und zeitintensiv, um ein vergleichbares Verhalten der Steuerung in allen Umgebungen zu erreichen.

Um eine einzige Quelle für die Software nutzen zu können, setzt Siemens Energy bereits seit Jahren erfolgreich auf Model-Based Design bzw. Engineering der Prozesse mithilfe von MATLAB® und Simulink®. Über die Entwicklung der Steuerungs- und Schutzsoftware in Simulink® und die anschließende Codegenerierung mit TwinCAT 3 Target for Simulink® entfallen genau die genannten manuellen Schritte. Stattdessen können sich die Entwickler*innen auf ihre Kernaufgabe konzentrieren. Dadurch, dass die gleiche Software sowohl in verschiedenen Simulationsumgebungen als auch auf der finalen Steuerungshardware läuft, lässt sich das Verhalten besser vergleichen.

Ein weiterer Vorteil ist die Zeiteinsparung im Fehlerfall bzw. bei der Erweiterung der Modelle. Musste man in der Vergangenheit die Fehler im jeweiligen Zielsystem beheben bzw. dort die Funktionen erweitern, wird dies heute im Quellmodell in Simulink® durchgeführt. In Verbindung mit TwinCAT sind dann die bereits getesteten Software-Module mit nur noch wenig Aufwand auf die leistungsstarken, hoch echtzeitfähigen Embedded-PCs zu portieren und lediglich mit den physikalischen Schnittstellen zu verbinden. Auf diese Weise lassen sich sowohl HIL-Tests (Hardware in the Loop) als auch Tests mit den später in der echten Anlage verbauten Schaltschränken mit der Regelung durchführen, um eine auf alle Szenarien im Stromnetz bestmöglich abgestimmte Regelung auszuliefern.