Das Beckhoff MX-System: Neuer Baukasten für die Automatisierung ersetzt den Schaltschrank!
Eine Revolution im Schaltschrankbau – nicht mehr und nicht weniger verspricht das neue MX-System von Beckhoff. Worauf sich dieser Anspruch begründet und auf welche Weise der konventionelle Schaltschrank ersetzt werden kann, erläutern Hans Beckhoff, geschäftsführender Inhaber, und Daniel Siegenbrink, Produktmanager MX-System, im Interview. Beckhoff steht seit jeher für technische Innovationen. Was können wir als nächsten Entwicklungsschritt in der Automatisierung erwarten?
Hans Beckhoff: Richtig, wir haben schon so manche Revolution in der Automatisierung eingeführt. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang gern an das Prinzip der PC-basierten Steuerungstechnik im Allgemeinen sowie an die Busklemmen als dezentrale I/Os und an unser heute als weltweiter Standard etabliertes Kommunikationsprotokoll EtherCAT. Insgesamt konnten wir in der über 40-jährigen Firmengeschichte vielfältige Erfahrungen sammeln, wie man Automatisierungstechnik grundlegend verbessern kann. Hinzu kommt, dass Beckhoff nicht nur ein Automatisierungsspezialist, sondern auch ein erfolgreicher Schaltschrankbauer mit rund 250 Mitarbeitenden ist. Nun fassen wir dieses breite Know-how in technologischer wie auch in praktischer Hinsicht in einer neuartigen Produktreihe zusammen. Diese wird aus unserer Sicht die Automatisierung nachhaltig verändern.
Was ist unter der neuen Produktreihe zu verstehen?
Hans Beckhoff: Wie erwähnt kennen wir den Schaltschrankbau aus der Praxis sehr genau. Diese Erfahrung haben wir mit dem Know-how aus unseren anderen Produktbereichen, d. h. bei IPCs, I/O- und Kommunikationstechnologie, Antriebstechnik und Software, kombiniert. Ergebnis ist ein einheitlicher Automatisierungsbaukasten, der den klassischen Schaltschrank mit seiner Verdrahtung vollständig durch normierte Module ersetzt. Dabei werden alle im Schaltschrank bzw. an der Maschine benötigten Gewerke und Funktionen in einem System – dem MX-System – zusammengefasst.
Daniel Siegenbrink: Jeder Schaltschrank ist vom Prinzip her gleich aufgebaut. Es gibt immer eine Energieeinspeisung, einen Hauptschalter, Netzteile, die Steuerung inkl. I/O-Ebene und Feldbus sowie die Antriebstechnik. Dazu kommt die Energieverteilung, d. h. das Schalten von 400 V bzw. der Direktstart von Motoren oder die Versorgung von Fremdaggregaten. Diese immer wieder auftauchenden Blöcke haben wir normiert und mit dem MX-System in einem einheitlichen Konzept umgesetzt.
Wie ist das MX-System im Detail aufgebaut?
Hans Beckhoff: Grundvoraussetzung ist eine äußerst robuste mechanische Lösung in der Schutzart IP67, um alle Automatisierungsmodule praxisgerecht und stabil direkt an der Maschine unterbringen zu können. Wir haben hierfür ein sogenanntes Baseplate-Konzept realisiert. Dazu gehört zunächst die aus einem mechanisch sehr stabilen Aluminiumprofil bestehende Baseplate, die neben der mechanischen Hülle auch Backplanes umfasst, zum einen für Steuerspannungen und Kommunikation und zum anderen für Leistungsspannungen. Weiterhin sind verschiedene Steckverbinder – Daten- und Leistungssteckverbinder – definiert, auf die sich Funktionsmodule aufstecken lassen. Das ist die Basis für ein modulares Schaltschranksystem, das sich aufgrund der robusten Baseplate und Modulausführung direkt und ohne weitere Schutzgehäuse an der Maschine montieren lässt. Ein zentraler, manuell aufgebauter Schaltschrank ist somit nicht mehr notwendig.
Wie lässt sich damit eine Schaltschrankfunktion konkret umsetzen?
Hans Beckhoff: Mit dem entsprechenden Funktionsmodul kann man z. B. einen Antrieb einfach auf einen Steckverbinder der Baseplate aufstecken und mit robusten unverlierbaren Schrauben festschrauben. Er wird dann automatisch mit EtherCAT, also der Kommunikation, mit den entsprechenden Steuerspannungen und mit den Leistungsspannungen versorgt. Mehr braucht es nicht! Eine Minute und der Antrieb ist komplett eingebaut! Für den Motoranschluss steht auf der Modulvorderseite natürlich unsere bewährte One Cable Technology (OCT) zur Verfügung. Analog dazu sind die anderen Module aufgebaut, z. B. für die elektrische Einspeisung ein UL-konformes Einspeisemodul mit Hauptschalter und integriertem Netzteil. Insgesamt bilden wir mit dem MX-System die gesamte Automatisierungswelt ab, von digitalen, analogen und Safety-I/Os über Netzteile für eine 600-V-Antriebszwischenkreisspannung und andere Leistungsendstufen bis hin zu steckbaren Industrie-PCs. Es ist wirklich verblüffend, wie schnell ein Schaltschrank mit dem MX-System aufgebaut werden kann! Individuelle kundenspezifische Sonderfunktionen, die nicht in unserem Standard-Baukasten abgedeckt werden, werden vom MX-System ebenfalls unterstützt. Über Leergehäuse mit entsprechender MX-System-Schnittstelle oder über separate, per EtherCAT angebundene Schaltkästen lassen sich beliebige Funktionen integrieren.
Daniel Siegenbrink: Wir decken tatsächlich alle an der Maschine benötigten Funktionen ab. Die – übrigens Hot-Swap-fähigen – Module gliedern sich in die Produktbereiche PC, I/O und Motion und die neuen Segmente Relais und System. Dazu zählen auch einige neue Produkte wie z. B. Frequenzumrichter, Relais, Schütze, Hybrid-Motorstarter, Stromversorgungen 24 und 48 V sowie Leistungsabgänge.
Hans Beckhoff: Wir profitieren natürlich vom breiten Spektrum unserer PC- und EtherCAT-basierten Steuerungs- und Antriebstechnik, indem wir auf bewährte Technologien zurückgreifen können. Dennoch haben wir für das MX-System das komplette Beckhoff-Produktspektrum quasi neu erfunden und sowohl unter Leistungs- wie auch unter Steuerungsgesichtspunkten steckbar gestaltet. Um dabei zielgerichtet mit Blick auf die praktischen Anwendungen unserer Kunden zu entwickeln, arbeiten wir von Beginn an, d. h. seit mehr als drei Jahren, mit diversen Leitkunden zusammen. Das hat uns bei der Systemspezifikation sehr geholfen.
Apropos Spezifikation, welches sind die Rahmenparameter für den Einsatz des MX-Systems?
Hans Beckhoff: Das MX-System ist für maximal 63 A Nennstrom sowie für 1-phasige Spannungen bis 265 V AC und 3-phasige Spannungen bis 530 V AC ausgelegt. Der zulässige Temperaturbereich reicht von 0 bis 50 °C, bei rein passiver Kühlung.
Daniel Siegenbrink: Für die einzelnen Steckverbinder gelten folgende Parameter: Der Datensteckverbinder bietet EtherCAT-Kommunikation sowie 24 und 48 V DC und bis zu 20 A, ein Leistungssteckverbinder stellt die 3-phasigen AC-Spannungen (plus Neutralleiter und PE) sowie die DC-Spannungen von bis zu 848 V für den Zwischenkreis der Antriebstechnik bei maximal 63 A für ein Modul zur Verfügung stellen. Als weiterer wichtiger Aspekt für den praktischen Einsatz betrifft die Zertifizierungen. Das MX-System ist ein Schaltschrankersatz, der die relevanten Schaltschranknormen einhält. Aber nicht nur das. Im Gegensatz zum konventionellen Schaltschrank bietet es eine einheitliche Lösung für CE, UL CSA und IEC. Der Maschinenbauer kann also tatsächlich auf Lager fertigen und sich erst am Tag der Auslieferung entscheiden, in welche Region weltweit er die Maschine verschickt.
Welche weiteren Vorteile ergeben sich für den Maschinen- und Anlagenbauer?
Hans Beckhoff: Die Vorzüge des neuen Modulsystems zeigen sich bereits in der Konstruktionsphase. Denn die Komplexität eines Schaltschranks mit allen Einzeldrahtverbindungen, Einzeladerbeschriftungen und dem konstruktiven Aufwand für den späteren Schaltschrankbau reduziert sich drastisch. Mit dem MX-System müssen nur noch Module auf eine Platte gesteckt werden, sozusagen als elektrische Schaltschrankinsel ähnlich einer pneumatischen Ventilinsel. Das führt nach Aussage einiger Pilotkunden dazu, dass sich z. B. 300 Seiten Schaltplan auf 30 Seiten reduzieren und der zugehörige Arbeitsaufwand ebenfalls um 90 % geringer ist. Das sind immense Einsparungen, die sich auch in geringeren Kosten niederschlagen sollten.
Daniel Siegenbrink: Unsere Kunden denken heute in kompakten Maschinenmodulen, haben aber immer auch den Schaltschrank sozusagen als übergeordnete Einheit zu berücksichtigen. Zum einen erfordert das viel Verkabelungsarbeit und zum anderen lässt sich auf diese Weise die Modularität in den Maschinenkonzepten nicht vollständig abbilden. Mit unserem System ist das hingegen problemlos möglich, denn der Schaltschrank ist kein großer monolithischer Block mehr, sondern er kann modular an der Maschine verteilt werden.
Hans Beckhoff: Entscheidend ist sicher auch der minimierte Platzbedarf. Der Maschinenbauer kann das kompakte MX-System direkt am Maschinenkörper anbringen und somit auf einen separat platzierten Schaltschrank mit eigenen Leitungswegen verzichten. Dadurch vereinfacht sich die Installation deutlich, insbesondere in Verbindung mit vorkonfektionierten Kabeln. Zumal die steckbare Installation nicht mehr unbedingt ein Elektriker vornehmen muss, sondern auch ein Mechaniker mit übernehmen kann.
Was bedeutet das MX-System für den Schaltschrankbau an sich?
Daniel Siegenbrink: Der Schaltschrankbau ist heute meist ein komplizierter Vorgang mit sehr vielen Komponenten und Prozessabläufen. Hinzu kommen eine gewisse Fehleranfälligkeit und der hohe Platzbedarf. Hier hilft, dass mit unserer steckbaren Technologie nicht nur der Schaltplan, sondern auch der Verdrahtungsaufwand geringer wird. Analysen haben außerdem gezeigt, dass teilweise 90 % der Stücklistenpositionen entfallen. Es entfällt also viel Aufwand im Bereich Schaltschrankbau.
Hans Beckhoff: Ähnlich wie die Maschinenplanung profitiert auch der Schaltschrankbau vom minimierten Aufwand. Wir schätzen, dass sich z. B. ein zuvor 24-stündiger Schaltschrankaufbau auf nur noch rund eine Stunde Modulmontage reduzieren lässt. Zudem wird sich auch die Schaltschrankqualität verbessern. Schließlich wird die komplexe Einzelverdrahtung durch ein einfaches, fehlerfreies Zusammenstecken ersetzt. Ein weiterer Kostenspareffekt kommt hinzu, da wir die bisherige manuelle Einzelfertigung in die industrielle Vorfertigung der Module verlegt haben. Zudem werden viele Maschinenbauer ihre Logistik vereinfachen können, da sich mit dieser einfach montierbaren Technologie auf einen externen Schaltschrankbau verzichten lässt.
Inwieweit profitiert der Endanwender vom MX-System?
Hans Beckhoff: Wir glauben, dass unser MX-System gerade auch bei den Endanwendern der Maschine sehr große Vorteile generieren wird. Durch die Kapselung der einzelnen Automatisierungsfunktionen in einem Modul lässt sich auf Modulebene eine einfache Diagnose für elektrische Fehlerfälle durchführen. Klassischerweise darf bei einem solchen Fehler nur der Elektriker den Schaltschrank öffnen, um mithilfe eines Messgeräts eine Spannung oder ein Schütz zu prüfen. Mit dem MX-System ist das nicht mehr notwendig, denn den Schaltschrank an sich gibt es nicht mehr und die eigentliche Funktion ist in ein Modul gewandert. Also muss der Instandhalter nur noch den Zustand des Moduls ermitteln – anhand von Status-LEDs, eines Smartphones und der Beckhoff Device Diagnose – und dann entscheiden, ob das Modul, das Kabel zum Feldgerät oder das Feldgerät selbst auszutauschen ist.
Daniel Siegenbrink: In vielen Unternehmen fehlt häufig geeignetes Instandhaltungspersonal, welches bei der zunehmend komplexeren Steuerungstechnik den Service oder Reparaturen durchführen kann. Auch unter diesem Aspekt haben die einfache Austauschbarkeit der Module und das umfassende Diagnosekonzept für den Endanwender eine immense Bedeutung. Zumal beim MX-System anders als im klassischen Schaltschrank ausschließlich vernetzte Komponenten zum Einsatz kommen. Somit ist das MX-System ein vollständiger IoT-„Schaltschrank", der es unseren Kunden ermöglicht, auch die Komponenten eines bislang passiven Schaltschrank-Bauteils, wie z. B. Schütz oder Sicherung, in Konzepte der vorbeugenden Instandhaltung einzubinden. Gleichzeitig basiert die Beckhoff-Device-Diagnose ebenfalls darauf, dass jedes MX-System-Modul und auch die Baseplate ein EtherCAT-Teilnehmer ist.
Was ist unter dem genannten Diagnosekonzept genau zu verstehen?
Daniel Siegenbrink: Zum einen gehören die bekannt umfangreichen Diagnosemöglichkeiten von EtherCAT dazu. Ergänzt wird dies durch eine für jedes Modul eineindeutige Seriennummer, die als DataMatrix-Code auf der Frontseite platziert ist. Dieser Code lässt sich per Smartphone-App scannen, wodurch sich das Smartphone mit der Steuerung mittels drahtloser Technologie verbindet und dann die jeweiligen Diagnosedaten wie z. B. Modulstatus oder Fehlerspeicher anzeigt. Das Smartphone wird so zum „Universal-Digitalvoltmeter und Scope“. Es ersetzt nicht nur die klassischen Messgeräte. Der Instandhalter oder Servicetechniker wird genau über den Zustand einer Funktion oder Baugruppe informiert, ohne dass er die Hardware ausmessen muss.
Hans Beckhoff: Mit diesem Konzept führen wir ganz allgemein die Beckhoff Device Diagnose ein, indem jedes intelligente Beckhoff-Produkt eine solche eineindeutige Seriennummer erhält. Diese kann von außen über den DataMatrix-Code oder intern über die EtherCAT-Kommunikation eingelesen werden.
Welche Kunden möchte Beckhoff mit dem neuen MX-System ansprechen?
Hans Beckhoff: Wir denken, dass wir fast alle Aufgabenstellungen der Automatisierung mit unserem neuen System lösen können! Das MX-System ist für eine möglichst große Anwendungsbreite ausgelegt, genau wie der traditionelle Schaltschrank selbst, den wir im Endeffekt damit ersetzen wollen. Natürlich passt das MX-System perfekt im Maschinenbau, aber auch in der Prozesstechnik, Messtechnik usw. sollte das System deutliche Vorteile für die Anwender bringen. Überall, wo es um elektrische Energie und Intelligenz geht, wird das MX-System große Vorteile haben!